Der Tod und das Mädchen
Selena

Sie rennt, rennt, und die Nacht
schirmt sie mit kühler, raunender Luft. Die Kälte wird nicht lange anhalten.
Bald wird die Sonne aufgehen, und der Sand, der ihre Flucht jetzt nur verlangsamt,
wird zu einer beißenden, glühenden Folter werden. Es ist ihr gleich. Das Blut
auf ihrem Körper und ihrem zerrissenen Kleid ist so trocken wie der Samen.
Es muß bereits Stunden her sein, aber das bedeutet nicht das Geringste. Dies
ist nicht ihr erster Versuch, und er hat sie immer, immer gefunden.
Diesmal jedoch wird er ihr nicht folgen; der andere mag es tun, und daher
kann sie nicht aufhören, zu rennen, weit über jedes erträgliche Maß hinaus.
Als sie schließlich zusammen-bricht, ist sie nicht überrascht, zu spüren,
wie der stechende Schmerz in ihrer Brust seine Klauen durch ihren ganzen Körper
ausstreckt. Der Tod ist ihr vertraut. Seit dem Tag, an dem er ihre Welt zerstörte,
hat er ihre Seite nicht verlassen.

"Du bist heute schon einmal
gestorben", sagte er und hielt sie fest, während sie vergeblich versuchte,
sich freizukämpfen. "Hat dir das gefallen?"
Der Dolch, den sie kurz an sich hatte bringen können, war nun wieder in seiner
Hand. "Ich werde dich so oft töten, wie es nötig ist, um dich zu zähmen",
sagte er auf die gleiche sachliche Weise, in der sich ihr Vater, den er ebenfalls
getötet hatte, über die Sturheit der Jugend beschwerte. Und so starb sie zum
zweiten, aber nicht zum letzten Mal an diesem Tag. Er tötete sie noch zwei
weitere Male, vergewaltigte sie, wenn sie wieder zum Leben erwachte, und sie
hätte nicht sagen können, was er mehr genoß. Kein Mann ihres Stammes hatte
sie angerührt, was nicht nur an ihrem Status als Priesterin lag. Sie war ein
Geschenk der Götter, das hatte Hijad immer verkündet, ohne Eltern, die Anspruch
auf sie erhoben, größer als alle anderen Stammesmitglieder, und ihre Magie
flößte den anderen Ehrfurcht ein.
Nun, sie hatten sich alle geirrt, dachte sie bitter, als das Ungeheuer ihr
Zeit dazu gab. Alle, selbst Hijad. Die Magie, die Träume, die sie hatte, die
Augenblicke, in denen sie spürte, wie Erde, Wind und Sterne zu ihr sprachen,
nichts von all dem war in der Lage gewesen, ihr und ihrem Stamm Schutz zu
bieten. Jeder einzelne ihres Volkes war tot, wie das Ungeheuer ihr gesagt
hatte, und sie glaubte ihm. Jeder, und auch sie war es.
Sie war tot, und er war derjenige, der über Magie verfügte, denn er rief sie
ins Leben zurück, immer wieder, zurück zu noch mehr Schmerz und Hilflosigkeit.
Es gab kein Mittel, um ihn aufzuhalten. Einmal gelang es ihr, ihn zu beißen,
so tief, daß sie sein Blut in ihrem Mund schmecken konnte, aber er lachte
nur, während sie beobachten konnte, wie die Wunde in Windeseile verheilte.
Danach zeigte er ihr, daß er ihre eigene Heilung zwar bewirken, doch auch
unendlich lange, und auf unendlich viele Arten, verzögern konnte.
Ein furchtbarer Gedanke kam ihr, der ihren Verstand durchbohrte, während das
Ungeheuer ihren Körper pfählte. Wenn sie ihrem Stamm wirklich von den Göttern
gegeben worden war, dann als ein Fluch, um den Stamm zu zerstören, und der
Gott, von dem sie stammte, mochte sehr wohl dieses Wesen sein, das sich von
allen, die sie gekannt hatte, so gänzlich unterschied. Doch mit ihr hatte
er einiges gemeinsam; er war so groß wie sie, so langgliedrig wie sie, und
seine Augen waren nicht dunkel wie die ihrer Stammesleute, sondern hell, wechselshaft,
mit etwas von dem Grün ihrer eigenen Augen. Verzweifelt versuchte sie den
Gedanken zu verscheuchen, doch er hakte sich mit der gleichen tückischen Kraft
fest, wie es die Alpträume taten, von denen sie gelegentlich heimgesucht wurde:
Es war der Tod, der sie erschaffen hatte, und nun nahm er sie wieder zu sich.

Als sie ihre Augen öffnet,
wird sie von der schrecklichen Helligkeit der Sonne beinahe geblendet. Sie
würgt und erbricht, was sie zuletzt gegessen hat. Wie lange ist das her? Erst
einen Tag, und doch scheint es viel länger zurück zu liegen. Während der Speichel
um ihren Mund schnell trocknet und ihre Augen zu tränen beginnen, schaut sie
sich um. Nichts, bis auf den Sand und die Luft, die nun still zu stehen und
jeden Atemzug aus ihrem Körper zu saugen scheint, statt ihn mit neuem Leben
zu erfüllen. Niemand ist hier, niemand. Sowohl Erleichterung als auch Verzweiflung
fallen ihr zu schwer; stattdessen erfüllt sie dumpfe Betäubung, stark genug,
um in ihr den Wunsch zu wecken, sich wieder hinzulegen und erneut zu sterben.
Es würde nicht lange dauern, das weiß sie. Er hat sie bereits früher verdursten
lassen, um sie zu bestrafen. Diesmal zumindest gibt es keine quälenden Wasserschläuche,
die gerade außer Reichweite liegen, und sie ist an nichts gefesselt. Dennoch
gelingt es ihr irgendwie, aufzustehen und stolpernd weiter zu gehen. Sie bringt
es nicht mehr fertig, zu rennen, aber sie muß weiter, muß dieser Betäubung
entkommen, dieser Verzweiflung. Selbst der langsame, folternde Schmerz, den
ihr jede Bewegung bereitet, ist dem vorzuziehen.
Erst Stunden später, als sie wieder stürzt und aufgehört hat, zu zählen, wie
oft sie dies bereits getan hat, formt sich eine Frage in ihr. Wieso kann sie
immer noch von den Toten auferstehen, obwohl er nicht mehr da ist, um sie
ins Leben zurückzurufen?

An jenem ersten Tag hatte er
ihr seinen Namen genannt, aber sie weigerte sich lange, ihn auszusprechen.
Nach ihrem eigenen Namen erkundigte er sich nie, und nannte sie "Sklavin"
oder "Weib". Wenn die anderen Ungeheuer ihr einen direkten Befehl
gaben, der sich nicht an alle Sklaven richten konnte, was selten vorkam, nannten
sie sie "Methos Weib". Das machte ihr kaum etwas aus; es war
ihr sogar lieber als von ihnen bei ihrem Namen genannt zu werden. Namen bargen
Macht in sich; Namen zu benutzen, verband Menschen miteinander. Vielleicht
war sie vom Tod geschaffen worden, um ihren Stamm zu zerstören, aber sie brauchte
ihm nicht noch zusätzliche Macht über sich zu verleihen.
Man hieß sie arbeiten, und auch das machte ihr nichts aus. Es verschaffte
ihr die Gelegenheit, mit den anderen Sklaven zu sprechen. Zum größten Teil
handelte es sich um Frauen, doch es waren auch einige Männer dabei. Als keines
der vier Ungeheuer in Hörweite war, schlug sie vor, sich zusammen zu tun.
Schließlich waren sie bei weitem in der Mehrheit. Warum sollte man das nicht
ausnutzen, alle vier nachts töten und dann fliehen?
Die Frauen starrten sie an, als sei sie verrückt geworden, und fragten, ob
sie nicht bemerkt habe, daß die vier Dämonen waren, die über heilende Magie
verfügten.
"Der Tod beschützt sie", sagte eine der Frauen, ein hübsches Mädchen,
das keine vierzehn Sommer hinter sich haben konnte, während die älteren sich
von der Neuen abwandten, die von Aufruhr sprach und Hoffnung zu erwecken suchte,
wo es keine Hoffnung geben konnte.
"Das habe ich vermutet", antwortete sie, "aber sie können dennoch
niedergeschlagen werden, und gefesselt. Dann nehmen wir uns die Pferde und
verschwinden."
Das Mädchen, das Adi hieß, schüttelte ihren Kopf, während die anderen sie
beide ignorierten. Doch sie blieb beharrlich, und bis der Abend dämmerte,
war es ihr gelungen, Adi zu überreden. An diesem Abend wurde Adi zu demjenigen
Ungeheuer gerufen, das Caspian genannt wurde, und in ihrer Jugend und Angst
verpatzte sie den Versuch, ihn zu töten. Im Gegensatz zu Adi gelang es ihr
selbst, ihren Herren mit einer Eßschale niederzuschlagen, aber sie kam nicht
weit, da sie auf Adi wartete.
"Glaub mir", sagte der Tod, und Belustigung tanzte in seinen Augen,
wie an dem Tag, als er ihr das Schicksal ihrer Leute eröffnet hatte, "Sklaven,
die entkommen wollen, können sich kein Mitleid leisten. Du hättest nicht warten
sollen." Dann zwang er sie, zuzusehen, während Caspian Adi bestrafte,
indem er dem Mädchen bei lebendigem Leib die Haut abzog. Für Adi gab es keine
heilende Magie, nicht die geringste.
"Und was ist mit der da?" fragte Caspian keuchend, als er zu einem
Ende gelangt war.
"Sie wird hier sauber machen, nicht wahr, Mitleid?" gab ihr Herr
mit gleichbleibender Belustigung in seinen Augen zurück.
"Laß uns auch mit ihr spielen", schlug Caspian vor.
Adis Schreie zu hören, hatte sie fast alles an Entsetzen gekostet, das sie
empfinden konnte, und so spürte sie jetzt nur noch einen Hauch, ein verblassendes
Echo. Sie zuckte noch nicht einmal mehr zusammen. Der Tod bemerkte es und
schüttelte seinen Kopf.
"Nein. Ich habe andere Pläne mit ihr."
Caspian murrte ein wenig, aber wie es schien, hatte Adis Häutung ihn genug
befriedigt, um auf nichts weiterem zu beharren. Die Männer verschwanden, und
sie begann damit, sauber zu machen.
Danach versuchte sie nie wieder, andere in ihre Fluchtpläne mit ein zu beziehen.
Nicht, daß ihr die übrigen Sklaven noch zugehört hätten. Keiner derjenigen
, die zu diesem Zeitpunkt mit den Reitern lebten, sprach nach Adis Tod je
wieder ein Wort zu ihr. Nicht, daß diese Sklaven sehr lange lebten. Manche
starben wie Adi, weil sie von einem der Reiter getötet wurden. Manche starben
an Wunden oder Infektionen. Manche wurden schlicht und einfach in der Wüste
zurückgelassen. Nach zwei Monaten holten sich die Reiter ein neues Dutzend
Sklaven, und "Methos Weib" war mit einem Mal die erfahrenste
Sklavin des Lagers. Diesmal, so schwor sie sich, würde sie es besser machen.
Sie war eine Heilerin. Sie würde Leben bringen, nicht den Tod, und sich nie
wieder als Mittel zur Zerstörung gebrauchen lassen.

Leben, qualvolles Leben, das
sie von innen zerreißt, zwingt sie erneut ins Bewußtsein. Gewohnheitsmäßig
blickt sie sich um, aber wiederum ist er nicht da. Diesmal gelingt es ihr
nicht, sich zu erheben, also beginnt sie langsam, zu kriechen, bis sie sich
kräftig genug fühlt, um aufzustehen. Sie leckt sich schon lange nicht mehr
ihre aufgesprungenen Lippen; wie es scheint, ist sogar der Speichel in ihr
verdorrt. Dennoch bewegt sie sich weiter. Kann er sie aus größerer Entfernung
immer noch wieder erwecken? Ist der Zauber, mit dem er sie ans Leben gebunden
hat, ein dauerhafter, für den seine Gegenwart nicht mehr nötig ist? Oder ist
dies nur ein weiteres grausames Spiel, an dessen Ende er lachend auf sie warten
wird? Nein, dergleichen haben sie beide längst hinter sich gelassen. Sie hat
schon lange nicht mehr versucht, zu entkommen, seit.... Sie kann sich nicht
mehr erinnern, wie lange es her ist.
Es ist wieder Nacht, also schaut sie zu den Sternen empor und versucht, zu
tun, was ihr früher so leicht fiel: die Zeit durch den Stand der Sterne zu
berechnen. Es ist so schwer wie damals, als Hijad begann, es ihr beizubringen
- als sei sie wieder zum Kind geworden. Es will ihr einfach nicht gelingen.
Die Sterne ergeben keinen Sinn mehr für sie. Es muß daran liegen, daß sie
ihm von den Sternen erzählt hat. War das der Zeitpunkt gewesen, an dem sie
aufhörte, fliehen zu wollen? Als sie ihm von den Sternen erzählte?

Er nannte sie eine ganze Weile
lang Mitleid. Als sie begann, Selbstmord zu begehen, um ihm zu entkommen,
änderte er den Namen zu Torheit. Nach einem letzten Versuch, als sie sich
in einer Höhle versteckte, um ihrer Seele Zeit zu geben, ihren Körper zu verlassen,
aber wiederum erwachte, um ihn neben sich zu finden, begriff sie, daß sich
zu töten so nutzlos wie all die anderen Fluchtversuche war, die sie gemacht
hatte. Es blieb ihr nichts mehr, als sich ein neues Leben aufzubauen. Ihre
Magie mochte falsch oder böse sein, aber sie hatte noch immer ihre Erfahrung
als Heilerin, und so begann sie, zu heilen. Die anderen Sklaven erwiesen sich
als beschämend dankbar. Sie wußte, daß sie den Tod der anderen nicht ver-hindern,
nur etwas aufhalten konnte, aber es gab ihnen zumindest Hoffnung. Und ihr
gab es etwas zu tun, etwas, daß ihr die Möglichkeit verschaffte, über andere
Dinge als ihre eigene Hoffnungslosigkeit nachzugrübeln. Eine Zeit lang schlugen
die Reiter ihr Lager in den Bergen auf, und sie fand viele nützliche Kräuter
dort. Natürlich mußte sie erst um Erlaubnis fragen, und ihr Herr gewährte
sie ihr, nachdem er ihr einen seltsamen Blick zu warf.
"Ich beneide dich", flüsterte Lystris in ihrem Fieber eines Abends,
als sie ihr etwas von einem der Heiltränke gab, die sie gebraut hatte.
"Warum?" fragte die Frau, deren Herr sie nun wieder Mitleid nannte.
"Du bist nur Methos Weib - du mußt nicht auch noch zu den anderen
gehen. Und er schlägt dich nicht."
In dieser Woche hatte er sie in der Tat noch nicht geschlagen, aber sie wußte,
daß Lystris Annahme einen anderen Grund hatte. Nur ein Blinder hätte
nicht bemerken können, daß ihre Haut nie Flecken oder Schwellungen aufwies.
Ganz gleich, was er ihr antat, es hinterließ nie irgendwelche Spuren. Mittlerweile
war ihr sehr bewußt, wie ungewöhnlich das war. Er verkehrte gelegentlich auch
mit einigen der anderen Sklaven, aber sie blieb die einzige, mit der er seine
Magie teilte. Und bisher hatte keiner der anderen Reiter sie je angerührt.
Eine kleine Stimme in ihr protestierte, daß als Sklavin bevorzugt zu werden
nichts war, auf das sie, die Priesterin ihres Stammes, stolz sein sollte,
aber sie verdrängte den Gedanken, sowie er ihr kam. Ob Priesterin oder Sklavin,
keiner der anderen Götter hatte ihr je geholfen. Für sie gab es nur noch einen
Gott, und was sie aus ihrem Leben machen konnte, hing davon ab, wie gut sie
seine Regeln befolgte.
Plötzlich spürte sie ein Kribbeln in ihrem Körper, wie immer, wenn ihr Gott
oder seine Brüder sich ihr näherten. Sie hob ihren Kopf und betete, daß es
nicht Kronos mit der Forderung nach Lystris sein möge. Lystris würde sich
von ihrem Fieber erholen, aber nicht, wenn sie in dieser Nacht noch dienen
mußte, und außerdem konnte es in ihrem erschöpften Zustand sehr wohl sein,
daß die Frau Kronos genug mißfiel, damit er sie tötete.
Ihre Erleichterung darüber, statt Kronos ihren Herren zu sehen, wandelte sich
schnell in Furcht. Was, wenn er ihr Tun mißbilligte, oder ihr einfach befahl,
keine Zeit mehr auf die anderen Frauen zu verschwenden, da sie nur lebte,
um ihm zu dienen?
"Verzeih meine Kühnheit", sagte sie, "aber bitte, gestattete
mir, noch ein wenig bei ihr zu bleiben. Diese Sklavin braucht mich. Sie..."
verzweifelt suchte sie nach einem Argument, daß ihn überzeugen könnte, "ist
lebend viel nützlicher. Sie kennt bereits ihre Pflichten; eine neue Sklavin
müßte man erst lehren, und das würde viel Zeit kosten."
"Zweifellos", erwiderte er, nickte und hockte sich neben sie. Er
nahm den Becher, den Lystris geleert hatte, und roch daran.
"Sag", erkundigte er sich, "sind das die gleichen Kräuter,
die du benutzt hast, um die Dünne mit dem gebrochenen Bein gestern zu betäuben?
Haben sie eine beruhigende Wirkung? Wie nennst du sie?"
Erleichtert, daß er nicht ärgerlich war, doch immer noch sehr vorsichtig,
da sich seine Stimmung jederzeit ändern konnte, schüttelte sie den Kopf.
"Nein, es sind nicht die gleichen. Hier wurde das Fieber von Messerschnitten
verursacht, also habe ich..."
Er hörte ihr zu und unterbrach sie kein einziges Mal, während sie von Kräutern
und Mixturen sprach und darauf achtete, ihre Stimme stets gesenkt zu halten,
damit weder er noch die kranke Lystris verstört wurden. Seine völlige Aufmerksamkeit
auf eine Art auf sich gerichtet zu spüren, die nichts bedrohliches in sich
barg, war ein seltsames, neues Gefühl. Er sah sogar anders aus - ernst, aber
nicht kalt, und als sie schließlich endete und er sie weiter befragte, hatte
seine Stimme ihren höhnischen Beiklang verloren.
In jener Nacht tat er noch etwas anderes, das ihr neu war: er küßte sie. Er
hatte sie auf jede andere Weise berührt, von der Brutalität, die ihren ersten
Tag mit ihm ausgemacht hatte, zu der hintersinnigeren Demütigung, ihr zu zeigen,
daß er ihren Körper dazu bringen konnte, auf ihn zu reagieren, wenn er es
wollte. Aber er hatte sie nie geküßt.
Es war die erste Empfindung, die er in ihr auslöste, die sie nicht haßte oder
fürchtete. Unwillkürlich schrak sie ein wenig zurück, obwohl sie längst gelernt
hatte, nichts mehr dergleichen zu tun, und bemerkte, daß er sie mit der gleichen
tiefen Neugier betrachtete, die er gezeigt hatte, als sie von Kräutern sprach.
"Verrate mir deinen Namen", sagte er plötzlich.
Das seltsame Gefühl, das er erweckt hatte, wurde wieder von Angst erstickt.
"Lautet er nicht Mitleid?" gab sie mißtrauisch zurück, da sie eine
Falle fürchtete. "Oder Torheit?"
"Hin und wieder", sagte er, und lächelte. "Heute nacht, denke
ich, lautet er Quelle. Quelle der Weisheit. Du kannst all diese Kenntnisse
unmöglich bei deinem Stamm erlangt haben, einige von den Kräutern wachsen
mit Sicherheit nicht da, wo ich dich gefunden habe. Also, woher weißt du von
ihnen?"
Sie erstarrte, als er ihren Stamm erwähnte, aber wenn er es bemerkte, dann
zeigte er es nicht.
"Wie waren Nomaden", entgegnete sie, "und wir wanderten sehr
weit. Auch hier sind wir bereits einmal gewesen."
"Wirklich? Wie kannst du dir da sicher sein? Hier gibt es ganz gewiß
nichts, das bemer-kenswert genug ist, um sich daran zu erinnern."
"Wegen der Sterne", sagte sie und wunderte sich, daß er nach etwas
so Selbstverständlichem fragte.
Seine Augenbrauen kletterten nach oben.
"Erzähl mir nicht, daß dein Haufen Wüstenratten schon so weit entwickelt
war."
Verletzt ließ sie ihre so bitter erlernte Vorsicht fahren. "Wir können
nicht nur die Gegenwart aus den Sternen lesen, sondern auch die Zukunft, wenn
die Geister sie uns preisgeben", antwortete sie hitzig. Dann biß sie
sich auf die Lippen, denn nun war sie sicher, daß es sich nur um eine Falle
gehandelt hatte, um ihren Gehorsam zu prüfen, und daß sie elend versagt hatte.
Zu ihrer Überraschung zuckte er nur die Achseln. "Dann laß uns nach draußen
gehen", murmelte er. "Lies die Sterne für mich."

Langsam, mit entsetzlicher
Zähigkeit, erwacht das Wissen wieder in ihr und mit ihm eine vage Vorstellung
von möglichen Zielen. Kaufleute, die ihren Stamm besuchten, hatten oft Geschichten
vom prächtigen Ägypten berichtet, und sie hat sich immer danach gesehnt, es
eines Tages mit eigenen Augen zu sehen. Aber auch er hat gelegentlich Ägypten
erwähnt, wenn ihm danach war, ihr etwas zu erzählen, und daher beschließt
sie, sich nicht dorthin zu wenden.
Gelächter steigt in ihr auf, und bricht als ein Krächzen aus ihr heraus; zu
einem anderen Geräusch ist sie mittlerweile nicht mehr fähig. Als ob sie irgend
etwas dergleichen beschließen könnte. Weiter zu gehen, am Morgen oder am Abend
zu sterben, die Hitze des Tages abzuwarten, weil sie in der Nacht länger laufen
kann, ehe sie zusammenbricht, ja, dergleichen kann sie beschließen, aber sonst
überhaupt nichts. Dennoch kann es nicht schaden, in Richtung Norden zu gehen.
Zu gehen. Zu stolpern. Zu kriechen. Gleich.
Sollten ihr andere Reisende begegnen, so würden sie gewiß vor dem lebenden
Leichnam, zu dem sie inzwischen geworden ist, fortlaufen. Nachdem sie so oft
verhungert und verdurstet ist, daß sie sprüren kann, wie ihre Knochen aneinander
reiben, muß sie einem Dämon oder Ungeheuer ähnlicher sehen, als diejenigen,
vor denen sie flieht, es je getan haben. Ihr Kleid, das besondere Kleid, daß
er ihr von einer seiner Plünderungen mitgebracht hat - jenes Kleid, so wundersam
ohne Blut, Schmutz oder Rauchflecken - hängt in Fetzen an ihre herunter. Ihr
Haar ist ein schmutziges, verfilztes Gestrüpp, viel schlimmer, als es je war,
ehe er sie neu erschuf.
Sie scheut vor der Erinnerung daran zurück, wie er ihr die Kunst beibrachte,
ihm zu gefallen, weit über bloßen Gehorsam hinaus. Umsonst, umsonst. Sie wünscht
sich, die Sonne würde die Erinnerung aus ihr herausbrennen, aber die Sonne
tut nichts dergleichen. Also vergräbt sie sich in Sand wartet wieder auf die
Nacht. Auf diese Weise kann die Sonne zumindest auch sonst nichts verbrennen.

"Schau dich an",
sagte er und hielt den Bronzespiegel vor ihr Gesicht. "So ist es besser."
Sie nickte, scheu und gleichzeitig gewiß, daß es wirklich so viel besser war.
Anfangs war der Befehl, ihr eigenes Haar zu kämmen, eine Strafe für sie gewesen,
da der Vorgang sehr schmerzhaft sein konnte und er darauf bestand, daß sie
es schnell tat, damit sie keine Zeit verschwendete. Nun jedoch kämmte sie
sich ihr Haar, weil sie es so wollte. Auch sie dazu zu bringen, mit Kohle
und Henna ihr Gesicht zu verzieren, war einmal eine Disziplinierungs-maßnahme
gewesen, die sie übel genommen hatte, törichter Weise, denn nun erkannte sie,
daß sich in dergleichen zu üben dazu beitrug, sich ihres Herren noch würdiger
zu machen.
Sie fürchtete ihn immer noch, aber mittlerweile empfand sie mehr Ehrfurcht
als Schrecken. Er war ein Gott, er war der Tod, und so war seine Gnadenlosigkeit
nur natürlich. Ihr gegenüber jedoch war er nicht mehr gnadenlos. Sie war seine
Erwählte, sie war das Leben, so wie er der Tod. Sie ergänzten einander. Deswegen
hatte er sie erschaffen, zu ihrem Stamm geschickt und sie dann wieder zu sich
genommen. Darin lag der Sinn von allem, was ihr geschehen war.
Nun ging sie hoch erhobenen Kopfes durch das Lager, verteilte ihre Tränke
und verband die Verwundeten, und fürchtete die übrigen Reiter nicht länger,
zumindest nicht, soweit es ihr eigenes Schicksal betraf. Die Reiter waren
eine Geisel für alle anderen Menschen, aber sie, durch den Tod Erwählt, würde
nie wieder von ihnen verletzt werden.
Sie brachte den Sklaven nicht nur Heilung. Die Reiter waren wieder in die
Wüstenländer gezogen, und diejenigen, die zu krank oder zu schwach waren,
wurden ohne Umstände zurückgelassen. Sie konnte die Vorstellung von ihrem
langsamen Tod in der Sonne nicht ertragen, und so gab sie ihnen Tränke, die
ihnen ein schnelles, schmerzloses Ende bereiteten, während sie die Unglücklichen
in ihren Armen hielt. In ihrem ersten Leben hatte sie noch nie ein anderes
menschliches Wesen getötet, und der bloße Gedanke hätte sie abgestoßen, aber
jetzt begriff sie, daß der Tod auch eine Gnade sein konnte, und war sie nicht
die Auserwählte des Todes?
Einmal fragte er sie, was sie empfand, wenn die anderen starben. "Frieden",
antwortete sie wahrheitsgemäß. Er nickte, und plötzlich verstand sie. Genau
das war es, was er empfand, wenn er tötete. Die verstörende Erinnerung daran,
wie er den Arm eines kleinen Mädchens aufschlitzte, dann ihren Magen, und
schließlich ihren Hals, stieg in ihr auf, aber sie unterdrückte das Bild hastig
wieder. Dergleichen tat er nicht mehr. Nicht im Lager, und gewiß auch nicht
während der Raubzüge, obwohl sie da nur Vermutungen anstellen konnte. Nein,
ganz gewiß hatte er sich verändert, seit er sie auserwählt hatte. Lag nicht
ihre Aufgabe darin, die Klinge des Todes durch Gnade zu entschärfen?
Die anderen Sklaven nannten sie Gnade, obwohl sie sich insgeheim nicht mehr
zu ihnen zählte.
"Dein Weib wird überheblich, Methos", sagte Caspian eines Abends,
als die vier Brüder alle in Methos Zelt aßen. Ihr Herr lachte und meinte,
das sei sehr passend für ein so schwereloses Geschöpf. Silas, der mit dem,
was sie gekocht hatte, vollauf beschäftigt war, hatte die Bemerkung noch nicht
einmal gehört. Aber Kronos hörte sie.
Sie selbst hatte Caspian nicht beachtet, einmal, weil es klüger war, in seiner
Gegenwart zu schweigen, und zum anderen, weil sie entschieden hatte, daß es
sich bei ihm nur um einen Dämon niederen Ranges handeln konnte, und weil sie
ihn haßte für das, was er Adi und zahllosen anderen angetan hatte.
Doch Kronos ließ sich nicht so einfach ignorieren. Während sie die geleerte
Schale auflas, blickte sie hoch und bemerkte, daß er seinen Bruder dabei beobachtete,
wie dieser sie beobachtete.
Es erfühlte sie mit Angst. Sie konnte nie vergessen, daß es Kronos gewesen
war, der sie, als er nach ihrem Vater schlug, zum ersten Mal getötet hatte.
Außerdem wußte sie sehr wohl, daß trotz all des Geredes von Brüderlichkeit
eine gewisse Rangordnung innerhalb der Reiter herrschte. Caspian und Silas
mochten niedere Dämonen sein, ja, aber Kronos besaß nicht Macht über diese
beiden, er stand auch mit ihrem Herren zumindest auf gleicher Stufe. Das begriff
sie nicht, denn war ihr Herr nicht der Tod? Er sollte allein herrschen. Allein
und ausschließlich.
Gerade, als sie das dachte, wandte sich ihr Herr von ihr ab, um eine Frage
zu beantworten, die ihm Silas gestellt hatte, und Kronos schaute sie direkt
an. Es war verstörend. Es war, als ob er zum ersten Mal sie sah, keine gesichtslose
Sklavin, und sie war froh, daß sie ihren wahren Namen für sich behalten hatte.
Ihr Name stellte ihr letztes Stück unabhängige Macht und Schutz dar. Also
schluckte sie, befahl sich, stark zu sein und erwiderte den Blick genauso
direkt, betrachtete die schwarzen, vielfältigen Zeichen auf seinem Gesicht,
die Narbe und die Augen, die sich nicht wandelten wie die ihres Herren, sondern
von einem kalten, makellosen Blau waren. Es fiel ihr schwer, sich nicht abzuwenden,
aber es gelang ihr, sich zu behaupten. Sie war nun sicher vor ihm. Sie war
die Auserwählte des Todes.
In dieser Nacht konnte ihr Herr nicht schlagen, und er befahl ihr, ihm eine
Geschichte zu er-zählen. Also erzählte sie ihm die Geschichte von den Fünf
Fingern, an die sie der Abend wieder erinnert hatte.
"Der erste Finger sagt: Ich habe Hunger. Der zweite Finger sagt: Ich
habe aber nichts, das ich eintauschen könnte. Der dritte Finger sagt: Dann
laß uns einfach nehmen, was wir wollen. Der vierte Finger sagt: Und wenn uns
jemand erwischt? Der fünfte Finger sagt: Stehlt nur, wenn ihr wollt, aber
ich werde mich fern halten."
Während sie erzählte, rollte ihr Herr von ihr weg, und sein Gesicht wurde
zu der nicht deutbaren Maske, die sich gleichermaßen zu Zorn oder Gelächter
entwickeln konnte.
"Bist du dir bewußt, was du da sagst, Weib?"
"Es ist eine Geschichte", erwiderte sie und rührte sich nicht. "Nur
eine Geschichte, wie du befohlen hast. Die Mütter meines Stammes benutzten
sie, um ihre Kinder damit zu lehren."
"Und was wollten sie ihnen damit beibringen?" fragte er, immer noch
zurückhaltend.
"Eine Wahl zu treffen, und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Jeder
Finger trifft seine eigene Wahl."
Er rückte wieder näher, und sie fühlte, wie er seine Hände um ihren Hals legte.
"Glaubst du wirklich", fragte er sehr, sehr leise, "daß ich
ein Kind bin, das man unterrichten muß?"
Sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Ihr letzter Tod durch ihn lag schon eine
Weile zurück, aber sie hatte nichts vergessen, und sie wollte nicht wieder
erwürgt werden. Von allen Todesarten war dies die schmerzhafteste, bis auf
das eine Mal, als er ihren Magen geöffnet hatte. Sie zog es bei weitem vor,
erstochen zu werden. Das ging zumindest schnell.
"Nein", antwortete sie, "ich glaube, daß du bist, was du bist."
"Und was bin ich?"
"Der Tod und ein Gott. Aber du wünschtest dir eine Geschichte."
Diesmal spürte sie die Veränderung in ihm, ehe er sprach, und es war eine
Erleichterung. Er entspannte sich und meinte, aufrichtig belustigt: "Das
tat ich. Aber weißt du, was ich mir noch mehr wünsche?"
Auch sie entspannte sich und spielte mit. "Was?"
"Deinen Namen. Deinen wahren Namen. Und ich möchte, daß du mich bei meinem
Namen nennst."
Es war das letzte Stück ihrer Unabhängigkeit. Sie erinnerte sich an Kronos
und schauderte. Er spürte es. Seine Hände lösten sich von ihrem Hals und wanderten
zu ihren Armen hinunter, während er mit den Fingerspitzen ihre Gänsehaut nachfuhr.
Sie holte tief Atem und traf ihre Entscheidung. Es war gefährlich, aber wenn
sie ihm auch dieses Letzte gab, dann würde sie ihm beweisen, daß sie nun wirklich
ganz und gar ihm gehörte, und er würde ihren Glauben nie wieder in Frage stellen.
"Methos", sagte sie langsam, "mein Name ist Cassandra."

Der Boden wird nun fester.
Wenn sie nicht bereits einem halben Dutzend Phantasmen nach-gejagt wäre, dann
wäre sie jetzt sicher, daß eine Oase in der Nähe sein muß, aber mittlerweile
ist sie nicht einmal mehr der Hoffnung fähig. Sie weiß nicht, was es ist,
das sie noch weiter-treibt. Kann der Wunsch zu überleben so stark sein? Er
muß ihr Überleben wünschen, sonst wäre sie gewiß inzwischen tot, wirklich
tot. Angesichts dessen, was er ihr angetan hat, sollte sie wünschen, tot zu
sein. Ah, aber das würde bedeuteten, daß sie seiner Macht niemals entkommen
würde, denn herrscht er nicht über die Toten? Also kriecht sie weiter.
Ja, der Boden ist ganz bestimmt fester. Und ihre Finger bohren sich in etwas,
das auf gar keinen Fall irgend eine Art von Erde ist. Pflanzen, können es
Pflanzen sein? Etwas Stechendes, Schneidendes. Aber sie hat kein Blut mehr,
das sie geben könnte. Weiter. Weiter. Da. Der Boden wird wieder weicher, aber
diesmal... auch feuchter. Sie stellt sich vor, wie ihre trockene, trockene
Haut die Feuchtigkeit des Bodens in sich aufsaugt. So fühlt es sich an. Irgendwo,
in weiter Ferne, hört sie jemanden aufschreien, und das beruhigt sie seltsamerweise,
denn es scheint ihr zu beweisen, daß sie nicht wieder halluziniert. Weiter.
Mehr. Da. Ja, das ist Wasser. Sie trinkt nicht davon. Stattdessen zieht sie
sich weiter, noch ein letztes Mal, und rollt sich in das Wasser. Sie hat davon
geträumt, zu ertrinken. Der eine Tod, den er ihr nie gegeben hat.
Er. Der Tod.
Methos.

"Ihr seid heute weit geritten",
sagte sie zu ihm, nachdem sie ihm einen Becher voll aus Früchten gepreßtem
Saft angeboten hatte. Sie kniete vor ihm nieder, um mit einem Stück Tuch den
Staub von seinen Händen zu wischen.
Er nickte. Er war düster gestimmt, und doch nicht zornig, da war sie sicher.
Sie fuhr mit ihrer Arbeit fort und ging dazu über, sein Gesicht zu reinigen.
Er schaute sie an, und sie erkannte, daß er erschöpft war.
Etwas löste sich in ihr, das sie nicht begreifen konnte, denn es war eine
Art beschützerische Zärtlichkeit, ein völlig unangemessenes Gefühl gegenüber
einem Gott. Auch in seinen Augen lag etwas Neues, etwas, das sich an sie wandte.
Zögernd berührte er ihr Gesicht. Sie wollte sprechen, aber sie wußte nicht,
was sie sagen sollte, wie sie das Gefühl in sich ausdrücken konnte. Dann kam
ihr ein Einfall. Sein Name. Jener so selten gebrauchte Name. Das würde ihm
erklären, was sie sagen wollte.
Das kribbelnde Gefühl kroch in ihr hoch, und seine Hand sank herab, während
er sich erhob. Sie drehte sich um und stand ebenfalls hastig auf, denn es
war Kronos.
"Meinen Glückwunsch, Bruder", sagte Kronos und blickte sie beide
an, sah sie beide, wie er sie vorher gesehen hatte, und die Angst stieg wieder
in ihr hoch. "Wie ich sehe, hast du sie in allem gut unterrichtet."
Er nahm eine der Früchte auf und drehte sie zwischen seinen Fingern. "
Und wie es scheint, hebt sie die besten Früchte für dich auf."
Das tat sie, aber war das nicht angemessen? Die Sklaven, einschließlich derer,
die Kronos dienten, protestierten nie dagegen, denn sie wußten, wer sie war.
Auch sie durfte das jetzt nicht vergessen. Kronos hatte keine Macht über sie.
Ruhig antwortete ihr Herr: "Sie sind nicht besser als die übrigen."
"Vielleicht schmecken sie hier drin nur besser."
Kronos kam näher, und diesmal spürte sie, wie seine Augen an ihr auf und ab
wanderten. Einmal, als sie für ihre wahre Berufung noch blind gewesen war,
hatte ihr Herr sie dadurch bestraft, daß er sie nackt ein einen Pfahl gebunden
und einen Wasserschlauch knapp außer Reichweite gelegt hatte. Die Sonne hatte
sie verbrannt, doch durch die heilende Magie des Todes war es nicht von Dauer
gewesen. So fühlte sie sich jetzt - verbrannt.
"Du hast einiges aus ihr gemacht, nicht wahr?" höhnte Kronos.
"Sie ist nicht anders als die anderen", entgegnete ihr Herr.
Kronos wandte seinen Blick nicht von dem ihren. Sie wußten beide, daß dies
eine Lüge war. Sie war anders. Sie war Auserwählt.
"Aber du bevorzugst sie vor allen anderen", fuhr Kronos fort, und
ließ das Lächeln aus seinem Gesicht verblassen, als Cassandra sich weigerte,
nachzugeben und die Augen zu senken. "Warum wohl?" fragte er in
einem plötzlich schneidenden Tonfall. "Du hängst doch nicht etwa an ihr?"
Nun hörte sie die eisige Stimme des Todes. "Nein."
Sie versuchte sich selbst an diesem Wort - an jemandem hängen. Nannte man
es so, dieses Gefühl von Zärtlichkeit und das Bedürfnis, jemanden beschützen
zu wollen? Und selbst, wenn dem so war, es ging Kronos nichts an. Ihr Herr
leugnete es ihm gegenüber zurecht. Es ging nur sie beide etwas an.
Das Ableugnen schien Kronos zu gefallen, denn er lächelte wieder. "Nein,
so einen Fehler würdest du nicht machen, Bruder. Es ist nämlich an der Zeit,
die Kriegsbeute zu teilen."
Das konnte nicht sein Ernst sein. Er hatte kein Recht auf sie. Ihr Herr warf
ihr einen Blick zu, und in seinen Augen stand nichts von dem, was sie vorhin
dort gesehen hatte. Sie glichen dem polierten Spiegel, den er ihr gegeben,
der goldenen Kette um ihren Hals, die er ihr geschenkt hatte - wiedergegebener
Glanz ohne jede Wärme. Sie schlossen Cassandra völlig aus.
Kronos griff nach ihr und begann, sie hinter sich her zu ziehen.
"Nein!" schrie sie und versuchte verzweifelt, sich von ihm zu lösen.
Das konnte nicht wahr sein. Es war eine Prüfung, eine weitere Prüfung ihres
Glaubens, ihrer Treue. Aber warum, wo sie ihm doch bereits alles gegeben hatte?
Warum?
Während er ihr Handgelenk verdrehte, bemerkte Kronos: "Wie ich sehe,
hast du sie doch nicht völlig gezähmt. Das gefällt mir, Bruder."
Ihr Herr wandte sich ab und schaute weder zu ihr noch zu Kronos. "Wenn
ich fertig mit ihr bin", fuhr Kronos fort und zerrte sie bis zum Eingang
des Zeltes, "gebe ich sie vielleicht an Caspian weiter."
Da wußte sie, wie sie diese Prüfung, diesen Alptraum beenden konnte. "Methos,
bitte!" rief sie, und kümmerte sich nicht darum, daß Kronos hörte, wie
sie den Namen ihres Herren benutzte. "Bitte!"
Aber das Ende kam nicht, der Alptraum war nicht vorbei. Denn Methos drehte
sich nicht um.

Während sie zum Leben erwacht,
fühlt sie immer noch das gesegnete Wasser um sich, aber als ihre Augen wieder
in der Lage sind, zu sehen, entdeckt sie, daß es nicht tief genug ist, um
darin zu ertrinken. Es handelt sich um einen sehr flachen Teich. Sie dreht
sich um, und schluckt gierig, denn es ist ihr gleich, daß sie vorsichtig und
nur sehr langsam trinken sollte, und so stirbt sie wieder, und erwacht wieder,
diesmal mit etwas mehr Selbstbeherrschung. Inzwischen hat sich eine Gruppe
von Reisenden am Ufer versammelt, die nicht wagt, näher zu kommen und sie
aus dem Teich zu zerren, obwohl zwischen ihnen nur ein paar Schritte liegen.
Sie schauen sie mit einer Mischung aus Entsetzen und Ehrfurcht an. Sie erkennt
den Ausdruck nur allzu deutlich, denn er stand nur allzu oft in ihren eigenen
Augen.
Sie rufen wieder, aber sie versteht ihre Sprache nicht. Ihre Füße finden festen
Boden, sie erhebt sich, und die Menschen verstummen wieder. Einer der Männer
trägt einen Beutel aus Schafsmagen, den er offenbar mit Wasser hatte füllen
wollen, was er jetzt jedoch nicht wagt. Sie zeigt darauf, dann auf den Boden.
Und ohne zu zögern, gehorcht er und legt ihn nieder. Was von ihren Muskeln
noch übrig ist, brennt wie Feuer, als sie auf das Ufer zu geht, doch es gelingt
ihr, ohne ein einziges Mal zu stolpern. Sie bückt sich. Einen Moment lang
wird ihr schwindlig, doch es gelingt ihr, den Beutel aufzuheben, ohne zu stürzen.
Die Reisenden sind noch weiter zurückgewichen.
Bis die Dämmerung hereinbricht, haben die Reisenden dem Gespenst aus der Wüste
auch Nahrung und ein Kamel angeboten, damit es sie nicht verflucht. Das "Gespenst"
nimmt die Gaben huldvoll entgegen.

"Methos", schrie
sie, und Kronos lachte. "Weiter. Noch einmal", sagte er. "Ich
höre dich gerne seinen Namen rufen. Es ist ja bloß das hundertste Mal. Aber
wir halten uns ja für etwas Besonderes, mein Mädchen, nicht wahr? Du bist
ein Nichts. Du warst immer ein Nichts. Du wirst immer ein Nichts sein!"
Von Kronos vergewaltigt zu werden, unterschied sich nicht so sehr davon, von
Methos vergewaltigt zu werden, und war dennoch schlimmer. Bei Methos wußte
sie anfangs noch gar nicht, was sie erwartete, also war ihre Furcht geringer,
und später konnte sie es meistens vermeiden, wenn sie die Regeln befolgte.
Und dann war es ohnehin anders geworden, zu etwas, das ihr nichts mehr ausmachte.
Bei Kronos wußte sie genau, was auf sie wartete, und das war schon schlimm
genug. Aber das Schrecklichste lag darin, was durch die Vergewaltigung zerstört
wurde. Ihr Körper hatte nicht mehr ihr selbst gehört, seit sie zum ersten
Mal gestorben war; ihr Körper hatte Methos gehört. Zunächst, weil er ihn sich
genommen hatte, und später, weil ihr Körper für sie zu einem Geschenk geworden
war, daß sie ihm aus eigenem freien Willen gab.
Weil er sie erwählt hatte, weil sie für ihn etwas Besonderes war.
Aber Kronos hatte recht. Methos hatte sie weggeworfen. Sie war nichts. Als
Kronos sie zum erstenmal tötete, war sie sogar dankbar, denn jetzt würde sie
Methos sicher nicht noch einmal zum Leben erwecken, und der Tod erschien ihr
erneut als die einzige sichere Flucht vor dem Entsetzen, der völligen Erniedrigung.
Dem Verlust ihrer Welt. Er war zu ihrer Welt geworden, aber es war alles eine
Lüge gewesen.
Als sie erwachte, begriff sie, daß selbst dieses Entkommen ihr verwehrt bleiben
würde. Kronos war noch immer dabei, sie zu vergewaltigen. Er hatte sich wahrscheinlich
noch nicht einmal die Mühe gemacht, aufzuhören, während sie starb. Und wenn
er es endlich satt hatte, sie für ihren anmaßenden Glauben, Methos etwas bedeutet
zu haben, zu bestrafen, würde er sie den übrigen Ungeheuern übergeben.
"Ich fasse es nicht, daß er mit einem blöden Weib wie dir so viel Zeit
verschwendet hat", zischte Kronos in ihr Ohr, und plötzlich erwachte
etwas Heißes, Verzehrendes in ihr, eine winzige Flamme des Hasses. Dankbar
gab sie der Flamme alles, was von ihrem Wesen noch übrig war. Kronos mochte
sie zerstört haben, aber sie konnte seiner Genugtuung ein Ende bereiten, und
sie konnte verhindern, daß die anderen Ungeheuer sich auch noch beteiligten.
Als Kronos sie wieder auf ihre Füße zerrte, schluchzte sie: "Nicht mehr!
Bitte, nicht noch mehr!"
Dann begann sie damit, gehorsam zu sein, Kronos zu gefallen, wie Methos ihr
beigebracht hatte, einem Mann zu gefallen. Als sie vor ihm niederkniete, grunzte
Kronos zufrieden und sagte: "Vielleicht gebe ich dich doch nicht an Caspian
weiter."
In ihren Haß mischte sich Verachtung. Gehorsam war nicht das einzige, was
sie in diesem Lager gelernt hatte. Sie hatte auch gelernt, zu töten. Als sie
Kronos eigenen Dolch benutzte, um ihn zu töten, entdeckte sie, daß die
wilde Befriedigung, die sie dabei empfand, sich völlig von dem Frieden unterschied,
den ihr die Anwendung ihrer tödlichen Gifte bereitet hatte. Oh ja, das war
etwas, an dem sie Geschmack finden konnte - die Ungeheuer zu töten, die sie
getötet hatten.
Aber Methos konnte wahrscheinlich auch Kronos wieder zum Leben erwecken. Die
Erinnerung an Methos, wie er sich von ihr abwendete und sie an Kronos übergab,
schnitt ihr noch einmal ins Innerste. Sie brannte, genauso wie der Haß, der
ihr aus ihrer Verzweiflung geholfen hatte. Sie wollte ihn nicht wieder sehen.
Nie, nie wieder. Und wenn sie hier blieb, dann würde ein wieder erweckter
Kronos wohl seinen Wunsch erfüllen und sie zu einer endlosen Folter verurteilen.
Nein. Alles andere war besser als das. Also stand sie auf, stolperte auf den
Zelteingang zu und begann, zu rennen.

Das Gesicht, das ihr aus dem
klaren Wasser entgegen sieht, wirkt immer noch ausgehungert, aber es ist zumindest
wieder menschlich. Zwei Wochen voll regelmäßigem Essen und ausreichendem Wasser
haben eine Menge bewirkt. Nicht nur ist ihr Äußeres wieder halbwegs hergestellt,
sie kann auch zum ersten Mal, seit ihr Dorf zerstört wurde, wieder spüren,
wie ihre Kräfte zurückkehren. Ihre Kräfte, nicht die des Todes. Und
mit ihnen ihr Verstand. Sie war nie seine Erwählte, obwohl sie vielleicht
sein Geschöpf gewesen sein mochte; sie war nie mehr als eine Sklavin für ihn.
Doch sie hat ihre eigene Magie. Die Erde hat sie wieder als ihre Priesterin
angenommen. Und so spricht sie ihren Fluch, der ihre Feinde gewiß finden wird,
ganz gleich, wo sie sich befinden, ganz gleich, wie lange sie leben.
Sie erhebt sich, und wendet sich zunächst nach Norden.
"Ich nenne euch beim Namen. Dich, Silas, nenne ich Krieg. Da nichts außer
Kampf und Mord dir Freude bringt, wirst du Krieg dort finden, wo du Frieden
suchst, und durch ihn sterben."
Mit ausgestreckten Armen spürt sie, wie die Macht sie durchströmt, und wendet
sich nach Osten.
"Dich, Caspian, nenne ich Hunger. Da du deine Freude an Menschenfleisch
findest, soll nichts je wieder deinen Hunger stillen, bis er dich verzehrt
hat."
Mit weit geöffneten Augen und ohne vor dem blendenden Schmerz zurückzuschrecken,
richtet sie sich dann nach Süden, zum Sitz der Sonne, die sie so lange gequält
hat.
"Kronos, ich nenne dich Seuche. Da du alles mit deinem Haß und deiner
Bosheit vergiftest, was du berührst, wird das, was dir am teuersten ist, wie
Gift für dich sein und dir den Tod bringen."
Einen Moment lang hält sie inne, sammelt sich, und spürt, wie die Macht ihr
gehorcht, als wäre sie nie fort gewesen, als sie sich schließlich nach Westen
wendet.
"Und du, Methos. Ich nenne dich Tod. Du wolltest nichts als der Tod sein,
und so ist das dein Schicksal. Jeder Mensch um dich herum, jedes Wesen, an
dem du hängst, wird sterben, und du wirst nicht wieder Methos sein, bis deine
Welt zerstört ist, so wie du die meine zerstört hast."
Damit endet sie, obwohl sie noch etwas anderes hinzufügen will. Aber es bleibt
unausge-sprochen. Sie weiß es nun besser. Doch der Gedanke, die Vorstellung,
wie der Fluch enden soll, bleibt, und hängt wie Dunst über dem ruhigen Wasser,
als sie es verläßt.
Bis wir uns wiedersehen,
Methos. Bis wir uns wiedersehen.
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