Das Ende der Dunkelheit

Tatjana

 

Es war einer dieser besonders schönen Tage, an denen die Kinder draußen spielten und sie der Übermut packte.

"Livios, hier herüber!"

Die helle Stimme des Knaben übertönte das fröhliche Geschrei der anderen, die sich einen Ball aus getrocknetem Ziegenmagen zuwarfen, und der Angesprochene holte aus und warf das Spielzeug im hohen Bogen dorthin, wo es verlangt wurde. Der Junge griff sich den Ball, der ins Gras fiel, und lief in Richtung Hinterland. - Die anderen Kinder laut johlend hinterher. Weit außerhalb des Dorfes, inmitten von Ruinen alter Tempelanlagen, standen die Reste eines Brunnens, - und genau dorthin lief der Junge. Die anderen verlangsamten ihre Schritte, bis sie schließlich am Rande der Wiese unsicher stehenblieben.

"Flavio, laß das!" Lachend drehte der dunkelhaarige Junge sich um, triumphierend schwenkte er den Ball über seinem Kopf hin und her. "Was ist? Habt ihr etwa Angst?" "Wir dürfen hier nicht hin, das weißt du doch! Los, komm zurück!" Verächtlich schürzte Flavio die Lippen. "Pah! Das sind doch alles Ammenmärchen! Los, ihr Feiglinge, kommt doch!" Ein blondes Mädchen mit Namen Mina schüttelte so heftig den Kopf, daß die langen Haare nur so flogen. "Es ist verboten. Du darfst die Götter nicht herausfordern!" Übermütig drehte Flavio sich mit weit ausgebreiteten Armen im Kreis. "Ich sehe keinen!" "Flavio, laß doch!" bettelte Mina hilflos, die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. Doch der dachte gar nicht daran und machte weiter Faxen, bis sich ein paar Mutige fanden, die Flavio holen wollten.

"Ihr wollt den Ball?" schrie Flavio aufgedreht und sprang weiter in die Ruinen hinein. "Ihr wollt den Ball?? Da! Holt ihn euch!!" Damit versetzte er dem Ball einen mächtigen Tritt, er flog hoch - atemlos verfolgten die Kinder seine Flugbahn - und dann.... fiel er direkt in den Brunnenschacht!

Todesstille.

Kaum eines der Kinder wagte zu atmen, geschweige denn sich zu bewegen.

Und dann ertönte aus dem Inneren der Erde ein tiefes, grollendes: "He! Was soll das?"

Ein kollektives Aufschreien war die Folge und Hals über Kopf stürzten die Kinder davon, wie von Furien gehetzt und ohne noch einmal einen Blick zurückzuwerfen. Keines von ihnen würde Daheim von diesem Vorfall erzählen, aber später würde jeder von ihnen den eigenen Kindern das Spielen in den verfluchten Ruinen verbieten, so wie ihre Eltern es getan hatten.

Mit einem zufriedenen Grinsen lehnte Kronos sich zurück und warf den Ball gegen die Brunnenmauern, wo er abprallte, und der Unsterbliche ihn spielerisch wieder auffing, ehe er dieses Spiel wiederholte. Wieviel Abwechslung bot so ein harmloser Spaß doch in der Eintönigkeit seines Daseins!

Mina konnte nicht einschlafen. Nicht nur, daß der Verfluchte tatsächlich existierte, nein, ihre Eltern hatten auch ordentlich mit ihr geschimpft, weil sie - Mina - nicht aufgepaßt und den Ball ihres kleinen Bruders verloren hatte und zu allem Überfluß heulte Rubio auch noch seitdem ohne Unterlaß. Mina fühlte sich schlecht. Sie und Marco, ihr älterer Bruder, waren bei den verbotenen Ruinen gewesen! Wie sollte dieses ansonsten so folgsame Mädchen ihren Eltern noch in die Augen schauen und ihnen Treue und Ehrlichkeit beteuern?

Vielleicht konnte sie den Ball ja wieder zurückbekommen?

Mina setzte sich auf. Ja, das würde sie machen! Sie würde hingehen und ihn fragen, ob er ihr den Ball gab. Aber was, wenn er etwas anderes dafür haben wollte?

Schnell stand das Mädchen auf, kleidete sich an und eilte leichtfüßig in die Küche, wo sie eine vom Abendmahl übriggebliebene gebratene Hammelkeule in ein Tuch schlug, dann schlich sie hinaus und außerhalb der Grundstücksmauern rannte sie los.

Am Rande der Wiese zögerte Mina, dann straffte sie mutig die schmalen Schultern und steuerte zielstrebig den Brunnenschacht an.

Kronos sah in der Dunkelheit auf. Zwar war kein Laut zu hören, aber sein Gefühl trog ihn niemals! Und wie zur Bestätigung seiner Überlegung hörte er auch schon jemanden stolpern und einen Wehlaut von sich geben. Verwundert zogen sich seine Augenbrauen nach oben. Nanu!? Besuch um diese Zeit? Von jemandem, der in nicht allzu ferner Zukunft unsterblich sein würde wie er!?

"Hallo?"

Die Mädchenstimme klang dünn und recht kläglich, und Kronos beschloß, nichts zu sagen. Mina ließ sich nicht einschüchtern.

"Hallo? Bist du da?"

Dummes Balg, wo sollte er wohl sonst sein??

"Ich... Ich wollte..." Mina gab sich einen Ruck. "Ich wollte dich bitten, uns unseren Ball zurückzugeben. Er gehört meinem kleinen Bruder, weißt du, und jetzt heult er die ganze Zeit und... und..." Mutlos hielt Mina inne. Sie fühlte sich betrogen, weil sie jetzt all ihren Mut beisammen hatte und niemand da war, um es festzustellen; selbst der Verstoßene nicht, denn es war nichts zu hören da unten im Schacht. Lebten Götter überhaupt genauso wie Menschen? Ein Schluchzen stieg ihre Kehle hoch und Mina zog die Nase hoch. Bis in alle Ewigkeit würden ihre Eltern ihr zürnen wegen diesem unseligen Ball!

Eigentlich interessierte Kronos sich nicht für die Probleme anderer, aber die verzweifelte Traurigkeit dieses Mädchens rührte ihn irgendwie an, die wegen einem Kinderspielzeug über sich hinaus wuchs und trotzdem verlor. Sinnend drehte er den Ball zwischen seinen Händen. Ein Spielzeug, mehr nicht. Was sollte er damit? Mit einem kleinen Seufzen warf er den Ball durch die kleine Öffnung weit über ihm hinaus.

Zuerst wollte Mina es nicht glauben, dann nahm sie den Ball an sich und dankte inbrünstig den Göttern. Dann fiel ihr ein, daß sie ja nur einem zu danken hatte, und - bereit sich sofort zurückzuziehen - sie kniete sich an das Loch in der oberen Brunnenmauer.

"Danke!" wisperte sie hinein. "Hab Dank für deine Großzügigkeit, das werde ich dir nie vergessen!" Kronos schwieg und so stand das Mädchen auf und wollte gehen, aber nach ein paar Schritten kehrte sie wieder zurück. "Ich hab... Ich habe dir etwas mitgebracht, als Dank... Wo soll ich es hinlegen?" Oha, ein Opfer!? Das war doch mal was ganz was Neues! - Und Kronos war von Natur aus neugierig!

"Was ist es?" grollte er mit tieferer Stimme als normal. Er hörte, wie das Mädchen erschrocken einen Schritt zurück machte, sich dann aber wieder vorwagte. "Nichts, was deiner würdig ist. Aber ich hatte nichts anderes und... Eine Hammelkeule vom Abend." Keine Reaktion von unten. "Ich... Ich kann dir etwas anderes bringen, wenn du sie nicht annehmen willst, und ich... ich..." "Gib sie mir!" "Nach unten?" Natürlich nach unten, wohin denn sonst!?

Eine Hammelkeule! Gebraten! Gewürzt! Wie lange war es her, daß er so etwas gegessen hatte? Ewigkeiten! Seit Methos ihn hierher verbannt hatte, war ihm ordentliches Essen nicht mehr vergönnt gewesen; seither hatte er keine Unterhaltung, nur diesen gottverdammten Brunnenschacht und das Ungeziefer.

Hinter Kronos' Stirn arbeitete es. Eines Tages würde dieses Mädchen unsterblich sein, und vielleicht konnte sie ihm nützlich sein, endlich hier raus zu kommen? Tapfer war sie ja, das hatte sie bewiesen, war sie aber auch klug genug, ihm zu helfen?

Das eingepackte Fleisch fiel ihm direkt in den Schoß und gierig riß Kronos es hervor, um es zu verschlingen.

"Wie heißt du?" fragte er kauend. "Mina." kam die zögerliche Antwort...

Kronos nutzte die Gunst der Stunde und knüpfte ein erstes Band der Freundschaft zu dem kleinen Mädchen, das sich Mina nannte. Im Laufe der Jahre wurde es immer enger, die Kleine besuchte den Freund regelmäßig und brachte ihm stets eine Kleinigkeit an Essen und Trinken mit, unterhielt ihn und brachte ihm damit Nachrichten aus der Welt, die ihm noch unbekannt war, berichtete von den Neuheiten ihrer Zeit und erzählte ihm von ihrer Familie: daß ihr Vater ein sehr wohlhabender Kaufmann war, daß ihre Mutter den Wunsch hegte, Mina würde sich mehr ihren Bewerbern zuwenden, und daß ihre Brüder eingebildet und hochnäsig waren.

Ihre kindliche Zuneigung und das arglose Vertrauen, das sie in den älteren Vertrauten hatte, befriedigte Kronos, insbesondere, wenn er daran dachte, wozu dieses kleine Ding ihm noch dienlich sein konnte. Bald kannte er sich hervorragend in ihrer unmittelbaren Umgebung aus, wußte über ihr Verhältnis zu ihren Eltern und Brüdern Bescheid, kannte ihre Freunde beim Namen und ihre Lieblingsbeschäftigungen. - Und daß es sie fast umbrachte, weil sie solch ungeheuerliche Geheimnisse vor ihren Eltern hatte, indem sie sich nachts aus dem Haus zu ihm schlich. Kronos dachte gar nicht daran, ihr diese Exkursionen auszureden, im Gegenteil, er redete ihr Schuldgefühle ein, sprach von Wünschen und Hoffnungen, die sie in ihm geweckt und Versprechungen, die sie ihm gemacht hätte, so daß ihr gar nichts anderes übrigblieb, als ihn auch weiterhin zu besuchen, wollte sie seine Gefühle nicht verletzen.

In Mina hingegen wuchs ihre Zuneigung zu dem Mann im Brunnen stetig, der ihr immer geduldig zuhörte, ihr riet oder Mut und Trost zusprach. Bald fühlte sie sich ihm mehr zugetan als irgendjemandem sonst, und je älter sie wurde, desto tiefer wurde dieses Gefühl. Aus einem kleinen Mädchen wurde eine junge Frau, die sich dank Anleitung des Unsterblichen im Brunnen vernünftige Gedanken über sich und die Welt, in der sie lebte, machte. - Sehr zum Mißfallen ihrer Mutter, aber Kronos lehrte Mina, daß sie Prioritäten zu setzen hatte und sich nicht von ihrem Weg abbringen lassen sollte.

Eines Abends saß Mina wieder am Brunnen und las Kronos aus einem der heimlich beschafften Bücher vor, die ihr verboten waren zu lesen. Obwohl alles so war wie immer, spürte der Unsterbliche, daß seine kleine Freundin etwas bedrückte und so unterbrach er sie kurzerhand: "Was hast du, Mina?" Er konnte hören, wie sie das Buch zusammenklappte, trotzdem war zwischen ihnen noch eine längere Pause, in der sie schwiegen, dann antwortete sie mit belegter Stimme: "Wir müssen weg... Mein Vater, er hat Geschäfte in Akkadia zu tätigen, die einige Zeit in Anspruch nehmen werden, und wir sollen ihn begleiten." Ein unterdrücktes Schluchzen ließ sie abbrechen. "Ich will nicht weg, Kronos!" weinte sie dann auf, und um Kronos' Mundwinkel zuckte ein flüchtiges Lächeln.

Er hatte in Gedanken schon etliche Wege durchgespielt, wie er endlich wieder freikam, und dabei hatte er nicht außer Acht gelassen, daß Minas Familie ziemlich reich war und daß seine Worte ihr wie das Evangelium vorkamen, denen sie getreu folgte. Vielleicht hätte ihre Eröffnung ihn geschockt und ihn an der Erfüllung seiner Pläne zweifeln lassen, hätte er nicht schon vor Jahren vorgesorgt. - Jetzt würde sich zeigen, ob seine Saat Früchte trug.

"Du wirst doch nicht für immer gehen, Mina, oder?"

Die Männerstimme klang weich und sanft, als er sie scheinbar bange fragte, und in der jungen Frau reifte ein wahnwitziger Entschluß. Energisch straffte sie sich, richtete sich etwas auf und rebellisch funkelten ihre Augen in die Nacht. Sie war kein Kind mehr! Niemand konnte sie gegen ihren Willen von ihrem wahren Zuhause fernhalten! Ja, sie würde zurückkehren! So bald wie möglich.

"Nein." Sie lehnte ihre Stirn gegen die noch aufgeheizten Steine der Brunnenmauer. "Ich verspreche dir, ich werde zurückkommen. Ich kann dir nicht sagen, wann, aber ich werde kommen!" schwor sie eindringlich. "Das hoffe ich." erwiderte Kronos halblaut.

Er legte die Beine an den Mauern hoch und bewegte zufrieden seine Füße. Auf seinen Zügen lag ein selbstzufriedenes Lächeln, während er Mina weiter lauschte, wie sie ihm vorlas. Ah, die Früchte des Erfolges schmeckten doch herrlich süß!

Wenige Tage später reiste Minas Familie ab und es sollten erst einige Jahre ins Land gehen, bis Mina ihr Versprechen einlösen konnte.

Mina saß wie auf glühenden Kohlen und sie verfluchte die Tratschsucht der alten Dame, die sich in Erinnerungen an Minas Kindheit erging, dann war die ihrer Mutter dran und schlußendlich die eigene. Doch irgendwann einmal wurde selbst die robusteste Plaudertasche müde und die junge Frau verabschiedete sich schnell. Ungeduldig wartete sie auf den Einbruch der Dunkelheit, dann lief sie ohne ein Wort der Erklärung hinaus.

Ob er noch da war?

Gerade setzte sie den Fuß auf die Wiese, auf der nur noch Ruinen standen und die sich außerhalb ihres Dorfes befand, als ein heftiger Schmerz im Kopf sie erfaßte, Schwindel sie überkam und die Sicht nahm. Stöhnend sank Mina auf die Knie, beide Hände gegen ihre Schläfen gepreßt. Nur langsam ebbte der Schmerz ab...

Kronos' Kopf ruckte hoch. Ein anderer Unsterblicher? Dem Buzz nach noch recht jung, den Geräuschen nach weiblich... Mina? War sie tatsächlich zurückgekehrt?

Ein Schatten schob sich vor die kleine Öffnung.

"Kronos?" wisperte es zaghaft. "Bist du noch hier?" Er lächelte in die Dunkelheit. "Natürlich." antwortete er freundlich. Mina lächelte flüchtig, dann nestelte sie einen Beutel aus ihrem Kleid und stopfte ihn durch die Öffnung, um ihn an einem langen Band runter zu lassen. "Ich habe dir etwas mitgebracht. Es... ist nicht viel, aber das brauchst du ja auch nicht mehr." Kronos riß mit den Zähnen ein großes Stück Fladenbrot ab und schlang es herunter. "Wieso?" fragte er verständnislos dagegen und Mina, die es sich vor dem winzigen Zugang leidlich bequem gemacht hatte, drehte und wendete einen Kleiderzipfel verlegen hin und her. "Ich dachte.... Ich dachte, ich lasse Männer holen, die den Brunnen öffnen... - Natürlich nur, wenn du es willst." fügte sie schnell hinzu, als sei sie bei etwas Verbotenem ertappt worden.

Freiheit! Endlich! Nach so vielen Jahren....

"Was werden deine Eltern dazu sagen?" Nur Geduld, mein Alter, nichts überstürzen! "Mein Vater starb vor drei Monden am Fieber. - Genau wie meine Brüder. Ich bin mit meiner Mutter zurück, und sie ist... Na ja, nicht mehr recht bei Sinnen, wenn du weißt, was ich meine. Denkst du, ich weiß nicht, was ich tue?" "Nein." beschwichtigte Kronos sanft und Mina taten ihre scharfen Worte leid. Zum Teufel, was scherten ihn die anderen?? Mina bot ihm die Möglichkeit, endlich seinem Gefängnis zu entrinnen und es war ihr verdammt ernst damit!

"Es wird auf Widerstand stoßen." gab er trotzdem zu bedenken, aber die junge Frau winkte ab. "Ich habe dieses Gelände bereits gekauft und verkünden lassen, daß ich gedenke, es einebnen und ein Theater bauen zu lassen. - Es hat niemand Einwände erhoben." "Und wie hast du dir das vorgestellt, Mina?" "Du kommst mit zu uns, bis du wieder stark genug bist, und dann.... Du scheinst meinen Vorschlag nicht zu mögen. Wolltest du nicht nach deinen Brüdern suchen? Wolltest du nicht die neue Welt kennenlernen? Hast du es dir anders überlegt?"

Nein, oh nein! Das hatte er nicht! Um nichts in der Welt!

"Nein." Mina setzte sich auf. "Gut. Ich habe Arbeiter von außerhalb kommen lassen; sie werden ihre Arbeit morgen beginnen. Morgen Nacht dann werden wir dich holen und am nächsten Morgen wird dieser Brunnen nicht mehr existieren. Kronos?" "Ja?" "Du würdest es mir doch sagen, wenn dir meine Vorschläge nicht gefallen, nicht wahr?" "Sicher." "Gut... Ich muß jetzt gehen. Bis morgen also." "Gute Nacht, Mina."

Ja! Endlich!

Kronos hob sein Gesicht in einem triumphierenden Grinsen dem Mond zu.

Er war zurück und im Schutze von Minas Haus würde er bald wieder zu alter Form zurückfinden und sich auf die Suche nach seinen Brüdern begeben. Ach ja, und da waren ja auch noch Mina und ihre Unsterblichkeit, um die er sich kümmern müßte. Aber alles zu seiner Zeit....

Die ganze Nacht über hatten ein gutes Dutzend Sklaven an Kronos herumgebadet, -geschnitten und -gefeilt, -gekämmt und -geputzt, so daß er zum Morgenmahl wie ein normaler Mensch aussah und nicht wie ein leibhaftiger Albtraum.

Gerade schlang er das reichhaltige Frühstück herunter, als eine Frau die Terrasse betrat. Dem abwesenden Blick nach zu urteilen, mit dem sie ihre Umgebung bedachte, handelte es sich hierbei um Minas Mutter, die seit dem Tod ihres Gatten im Dämmerzustand lebte. Sie sagte auch nichts, sondern stellte sich an die marmorne Brüstung und starrte auf das Meer hinaus.

Kronos runzelte die Stirn, dann aß er weiter.

Der leichte Schritt verriet Mina, als sie zum Essen kam, und als sie den Unsterblichen sah, lächelte sie zufrieden über die Arbeit der Sklaven. Bevor sie ihn begrüßen konnte, vernahm man die sanfte Stimme ihrer Mutter, die - ohne sich umzudrehen - mit ihrer Tochter sprach: "Wir haben einen Gast, Mina." "Ja, Mutter. Sein Name ist Kronos." Mina dankte einer kleinen schwarzen Sklavin mit einem Kopfnicken für den Becher mit Saft. "Hat dein Vater ihn schon begrüßt?" Mina sah plötzlich sehr traurig aus. "Nein, Mutter." Die Dame drehte sich um und stieg die Stufen zum Garten hinab, mit den Worten: "Ich werde ihm sagen, daß es ungehörig einem Gast gegenüber ist. Sicher ist er wieder bei seinen Rosen und hat Karus vergessen." "Kronos, Mutter." berichtigte Mina automatisch, aber ihre Stimme war leise geworden und bebte verdächtig.

Kronos verfolgte diese Szene sehr aufmerksam.

Dann straffte sich die schlanke Gestalt und mit einem strahlenden Lächeln setzte Mina sich Kronos gegenüber, der kein Wort über diese etwas peinliche Situation verlor, wofür die junge Frau ihm sehr dankbar war.

"Wie fühlst du dich?" "Hervorragend! Ich hatte schon fast vergessen, welche Farbe das Meer hat und wie köstlich frisches Fladenbrot ist. Gewaschen, rasiert, saubere Sachen... Ich fühle mich wie ein neuer Mensch!" Minas Lächeln vertiefte sich. "So siehst du auch aus. Hast du einen Wunsch? Möchtest du etwas bestimmtes tun?" "Ich würde mir heute gerne das Haus und den Garten ansehen, wenn du nichts dagegen hast, und morgen.... Ich weiß noch nicht, mal schauen..." Mina machte eine einladende Handbewegung. "Fühl dich Zuhause." lud sie ihn ein. "Meine Sklaven sind angewiesen, dir jeden Wunsch zu erfüllen, sobald du ihn äußerst." Bedächtig legte Kronos seine Gabel neben den Teller und sah die junge Frau mit dunklem Blick an. "Zeigst du mir die Bibliothek?" fragte er endlich, als sie schon anfing, nervös zu werden, weil er nichts sagte. "Gerne." Anmutig erhob die junge Unsterbliche sich, aber Kronos winkte ab. "Nachher. - Nach dem Essen."

Die Bibliothek von Minas Vater konnte sich sehen lassen und bereits auf den ersten Blick wußte Kronos, daß er hier alles finden würde, was er brauchte, um sich über die vergangenen Jahrhunderte zu informieren. Einige Bücher kannte er bereits - Mina hatte sie ihm vorgelesen - aber alles in allem konnte er sehr zufrieden sein. So viel Glück ist ja kaum noch steigerungsfähig!, schoß es ihm durch den Kopf. - Bis er und seine junge Begleiterin gleichzeitig nach einem Buch griffen und sich ihre Hände dabei berührten. Mina zuckte zurück, ihr schoß das Blut in die Wangen und verlegen entfernte sie sich von ihm, um in einer Vase an der gegenüberliegenden Wand Blumen zu ordnen, die es eigentlich gar nicht nötig hatten. In Kronos' Augen blitzte es kurz auf, dann widmete er sich weiter seiner Lektüre...

Kronos ließ sich Zeit. - Er hatte mehr als genug davon! Er genoß die Fürsorge, die Mina ihm angedeihen ließ, den Luxus der Sklaven, das angenehme Leben in einem herrschaftlichen Haus, bis er sich stark genug fühlte, wieder ein Schwert zu führen. Mina war glücklich, ihrem ansonsten bescheidenen Gast einen Wunsch erfüllen zu können und bereits am nächsten Tag durfte Kronos beim besten Schmied der Gegend sein Schwert in Auftrag geben. Als er es in den Händen hielt, durchflutete ihn ein lang vermißtes Gefühl: der Ruf des Schwertes. Der Griff fühlte sich fremd und kalt in seiner Hand an, aber diese Abstriche würde er gerne machen.

Natürlich war es nicht sein Schwert; nicht das vertraute, warme Gefühl des Griffes, um den sich seine Hand schloß; nicht der Ruf der Klinge nach Blut; nicht das Singen des Schwertes, wenn er es führte; - nicht das Schwert, das Morregan ihm einst schenkte, auf daß er ihren Namen preise und in ihrem Sinne, nach ihren Lehren lebte.

Aber - nichtsdestotrotz! - es war ein Schwert. Und es würde ihn dorthin führen, wo er hin wollte.

Auf einer Bank sitzend sah Mina Kronos abends zu, wie er seine Schwertübungen abhielt. In den letzten Tagen hatten seine Bewegungen ihre ursprüngliche Geschmeidigkeit wiedererlangt, seine Hand war schnell wie eh und je und die junge Frau war sich bewußt, daß dieser Mann nicht ewig hierbleiben würde. Eine Erkenntnis, die sie traurig stimmte. Aber vielleicht mußte es ja so sein!? Vielleicht war sie ja nicht dazu ausersehen, glücklich zu werden. - Nicht mit ihm.

Kronos vollführte einen Ausfallschritt, streckte seinen unsichtbaren Gegner mit einem gezielten Hieb nieder, dann ließ er das Schwert sinken und setzte sich neben Mina auf die Bank. Der wurde die Kehle eng, so nah bei ihm; er, dessen unbekleideter Oberkörper mit Schweiß bedeckt war und an dem die Muskeln aufregend spielten; er, der sie mit diesem funkelnden Blick bedachte und sie so aufregend anlächelte, wenn er ihren Blick auffing!

"Was ist?" fragte er ganz unbefangen und erfreute sich daran, daß sie rot wurde. "Ich... äh... Ich... Darf ich dich etwas fragen?" "Sicher." "Wieso fühle ich deine Anwesenheit, wenn du mir nah bist?" Sein Lächeln vertiefte sich, Kronos fühlte seine Zeit gekommen, doch ehe er antworten konnte, störte Anaïs, die Leibsklavin ihrer Mutter, sie: "Herrin, verzeih bitte, wenn ich euch störe, doch hielt ich es für besser, dich zu unterrichten." "Was gibt es, Anaïs?" "Wir haben nach einem Arzt für deine Mutter geschickt. Sie schien sich nicht wohl zu fühlen." Mina stand sofort auf und strebte dem Haus zu. Achselzuckend sah Kronos ihr nach...

Es war schon finstere Nacht, als Mina sich endlich zur Ruhe begeben konnte. Lavinia, ihrer Mutter, ging es besser - sie hatte die Hitze des Tages nicht so gut vertragen - und die junge Frau war heilfroh, als sie sich endlich zurückziehen konnte. Noch während sie sich über die Waschschüssel beugte, stellten sich ihre Nackenhaare steil auf und irritiert drehte Mina sich um. Kronos lehnte gegen eine der Säulen, die sich in ihrem Gemach befanden, und beobachtete sie genau. Als er jetzt ihren Blick auffing, breitete sich ein Lächeln auf seinen Zügen aus, er stieß sich ab und kam so nahe an sie heran, daß er das unruhige Pochen ihrer Halsschlagader sehen konnte. Sacht strich er ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr und ignorierte dabei ihren erschrockenen Blick.

"Ich bin dir noch eine Antwort schuldig." raunte er rauh.

"Eine... Antwort?" stotterte Mina verständnislos, gebannt hingen ihre Augen in seinem Gesicht, wie hypnotisiert starrte sie ihn an, dessen Lächeln sich jetzt noch vertiefte.

"Warum du meine Anwesenheit fühlst." erinnerte er sie sanft.

"Und... warum...?..."

"Weil es deine Bestimmung ist!" Kronos' Stimme hatte etwas endgültiges bei diesem Satz, er beugte sich zu Mina herunter und seine Lippen suchten ihre....

Jetzt war es perfekt! Kronos genoß sein Leben in vollen Zügen. Mina war wie Wachs in seinen Händen, eine hingebungsvolle Liebhaberin, die sich nicht darum scherte, was die Welt wohl davon denken mochte, daß sie ihren Liebhaber bei sich leben ließ. Sie gewährte ihm alle Freiheiten, hielt Unannehmlichkeiten von ihm fern, führte ihn in die Gesellschaft ein, soweit es ihrem Einfluß oblag, und obwohl es ihr unmöglich war, das Getuschel vollends zum Schweigen zu bringen, so ließ es doch nach und nur ein paar ganz Uneinsichtige hielten an den Tratschereien fest.

Das einzige Ärgernis stellte Lavinia für Kronos dar, die zwar schweigend wie immer durch die Welt ging und ihre kindlichen Äußerungen nur ihren Sklaven gegenüber machte, die ihn jedoch immer schärfer beobachtete. Offensichtlich war es ihr nicht recht, daß er das Bett mit ihrer Tochter teilte und es schien ihm, als wollte sie ihn nur bei einer Unachtsamkeit ertappen, damit sie ihn aus dem Haus ihrer Tochter entfernen könnte. Mina versuchte, ihn zu beschwichtigen und gab insgeheim Anordnung, die beiden so gut es ging voneinander fernzuhalten, aber selbst dem aufmerksamsten Sklaven entging mal etwas....

"Mina ist nicht da."

Kronos wandte nur flüchtig den Kopf, ehe er seinen sehnsüchtigen Blick wieder auf das Meer richtete, das man von den hochgelegenen Terrassen aus sehen konnte und auf dessen tiefblauem Wasser sich die weißen Segel der Schiffe wie kleine Inseln ausnahmen.

"Nein." antwortete er Lavinia und gab sich keine Mühe, den ungeduldigen Ton in seiner Stimme zu unterdrücken. "Sie ist in der Stadt, weil sie neue Verträge mit den Architekten aushandeln will, um den Bau des Theaters voran zu treiben." Warum, zur Hölle, erklärte er ihr das überhaupt??? Sie verstand doch eh kein Wort davon, und kaum hatte sie seine Worte gehört, so hatte sie sie auch schon wieder vergessen!

"Kein guter Platz.... Kein guter Platz..." murmelte Lavinia immerfort vor sich hin, dabei schüttelte sie immer wieder den Kopf und folgte mit ihren Blicken ihren bloßen Füßen, als gäbe es nichts wichtigeres auf der Welt.

Kronos verdrehte die Augen. Er warf der Mutter seiner Geliebten einen Blick zu, die jetzt vor sich hinplappernd die Stufen zum Garten herunter stieg, dann fiel ihm ein Sinnspruch ein, den schon Methos ihm immer gesagt hatte: 'Kinder und Betrunkene sprechen immer die Wahrheit.' - Und Schwachsinnige waren nichts als große Kinder. Der Unsterbliche war sich nicht sicher, welchen Einfluß Lavinia auf Mina hatte, aber er wollte kein Risiko mehr eingehen. Nicht jetzt, wo es nur noch eine Frage von Tagen oder Wochen sein konnte, daß er diesen Ort verließ, um wie ein leibhaftiger Albtraum auf die Erde zurückzukehren und sie erneut das Fürchten zu lehren!

Sein Blick irrte auf das Meer zurück, es zuckte flüchtig um seine Augenwinkel, dann folgte er Minas Mutter mit einem resignierten Seufzen in den Garten, wo er sie an den Klippen stehend vorfand.

Himmel, manchmal war es wirklich zu einfach!

"Kein guter Platz..." murmelte sie immer noch und Kronos mußte sich zur Ruhe zwingen. "Warum?... Warum nur?... Warum das Bauen?... Mina?..." "Um den Brunnen zu öffnen." erwiderte er geduldig. "Brunnen?.... Nicht gut... Kein guter Platz.... Verflucht.... Mina, nein.... Nicht gut..." Die kleinen, schneeweißen Hände huschten über die Rosenstöcke, bis Kronos sie einfing und festhielt. Ausdruckslos sah er die Frau vor sich an, die verwirrt um sich schaute und ihn dann ansah, als wäre er ihr zum allerersten Mal begegnet. Lavinias Augen weiteten sich und der Schleier, der sonst über ihnen lag, hob sich. "Du trägst den Tod in unser Haus!" stieß sie hervor, ehe sie stockte, Kronos mit zusammengekniffenen Augen einen Moment betrachtete und dann grauenerfüllt einen Schritt zurück trat. "Du bist der Tod!" Kronos umfaßte die zierlichen Schultern der Frau, ohne ihr wirklich Gewalt anzutun; sein Gesicht zeigte ein freundliches Lächeln, auch wenn es sich nicht in seinen Augen wiederfand.

"Was bist du doch für ein kluges Weib. - Aber dein Wissen wird dir nichts nutzen, weißt du."

Kronos drängte sie zur Seite und Lavinia reagierte erst völlig verständnislos darauf, ehe sie ins Leere trat und begriff....

Lavinias Tod traf Mina tief und Kronos gab sich Mühe, sie glauben zu lassen, ihre Mutter hätte sich aus Verzweiflung und gebrochenem Herzen das Leben genommen; dafür sprach unter anderem auch die Tatsache, daß niemand etwas gesehen oder gehört hatte und man ihren Leichnam erst nach längerem Suchen gefunden hatte. Dieser Verlust hatte zur Folge, daß Mina sich Kronos mehr zuwandte als es vorher schon der Fall gewesen war und sie bei ihm Trost und Wärme suchte, und nur durch Zufall erfuhr Kronos, daß die junge Unsterbliche ihn zu ihrem Erben eingesetzt hatte, sollte ihr etwas zustoßen. Wie unachtsam von ihr, daß er das erfahren hatte...

'Unachtsamkeit ist tödlich, Kronos, und Gnade nur etwas für Schwächlinge. - Für beides ist in unserer Welt kein Platz!' klangen ihm Morregans Worte in den Ohren und in ihm erwachte der Wunsch, die Kriegsherrin wiederzusehen, ein Verlangen, das sich brennend in seinem Innersten ausbreitete und einen Entschluß reifen ließ.

Kronos spazierte mit Mina gemütlich durch die Abenddämmerung, dem neu erbauten Theater zu. Mina plauderte arglos vor sich hin und Kronos hörte ihr schweigend zu.

Beim Theater angekommen ließ Mina den Arm ihres Begleiters los und begutachtete, in der Mitte des Schauspielplatzes stehend, die Arbeit. Sie wirkte sehr zufrieden, ehe ein Schatten über ihr Gesicht huschte.

"Weißt du,..." wandte sie sich an den Geliebten. "... ich bin sehr traurig darüber, daß meine Mutter das nicht mehr sehen kann... - Ich verstehe bis heute nicht, warum sie sich in die Tiefe stürzte." "Das hat sie nicht." "Was?"

Als Mina sich zu Kronos umdrehte, zog der sein Schwert. Irritiert machte Mina einen Schritt auf ihn zu, die Hand wie um Halt suchend ausgestreckt, aber er hielt ihr die Klinge entgegen, so daß sie zurückfuhr. "Ich verstehe nicht..." stammelte sie fassungslos, worauf Kronos nur milde lächelte. "Sie ahnte, was geschehen würde. Ich konnte nicht zulassen, daß sie meine Pläne durchkreuzt. Das verstehst du doch sicher, oder!?" Tränen strömten über das Gesicht des Mädchens, das sehr schnell realisierte, daß man es betrogen hatte. Sie wich zurück, stolperte und fiel rücklings vor Kronos in den Staub, der ihr langsam folgte.

"Wieso?" flüsterte die junge Unsterbliche stockend. "Wieso?"

"Weil es am Ende nur einen geben kann."

Das Breitschwert hob sich, die untergehende Sonne spiegelte sich in der Klinge und ließ es aussehen, als wäre es mit Blut befleckt, dann raste es nieder...


Ende