Silas
Die Jungen hatten sich schon
den ganzen Tag gestritten, jetzt endete die Auseinandersetzung in einer
Schlägerei. Einige der Passanten versuchten, sie wieder auseinanderzuziehen,
doch der bullige Sohn des Schmiedes legte sich auch mit denen an. Erst
als Oktas, der Schmied, wutentbrannt auf seinen Sohn zustürmte, ließ
der blonde Raufbold los. Der kleine Junge namens Silas fiel zu Boden und
keuchte, während sein Angreifer zwei schallende Ohrfeigen erhielt.
Jarina kam aus ihrer Hütte und half dem Jungen auf. Er war ein Findelkind
und keiner wollte sich um ihn kümmern außer der alten Jarina.
Sie galt als ein dummes, altes Weib, welches nie zum Rat der Alten zugelassen
wurde. Wie auch, sie war ja nur eine Fremde, deren Karawane den Fehler
begangen hatte sich hierher zu verirren. Daher sagten alle, der kleine
Fremdling würde gut zu ihr passen.
Jarina wischte Silas das Blut aus dem Gesicht. "Wir werden uns rächen, mein Kleiner, schon bald", murmelte sie leise, während sie einen Teller mit einer kräftigen Suppe füllte. Wer nach Beront kam musste bleiben, ob er wollte oder nicht, Jarina gehörte zu denen die nicht wollten. "Du musst bald los", sagte Jarina. Sie stellte eine Tasche mit Werkzeug auf den Tisch und legte Brotfladen mit Fleisch und Käse hinzu. Silas wurde nicht zur Ausbildung zugelassen, daher musste er im Bergwerk arbeiten. Er musste sich mit vielen Problemen herumschlagen, obwohl er erst sieben war, doch der alten Jarina ging es nicht anders. Sie lebten in einer Stadt, in der Bildung und Kunst das einzige war, das zählte. Doch sie waren hier nicht geboren worden, durften also nicht in die Schule. So gehörten sie zu dem arbeitenden Pack, das nichts zu sagen hatte. Diese Regelung erhielt den Wohlstand und die Sicherheit von Beront, doch es ließ Hass in den eigenen Reihen entstehen.
Nicht ganz zwanzig Jahre später wagte es keiner mehr, Silas zu schlagen. Er war zu einem Muskelberg von Mann geworden, die schwere Arbeit im Bergwerk und das gute Essen der alten Jarina hatten ihr Werk getan. Doch trotz seiner Kraft und dem Respekt, den er sich dadurch verdient hatte, war Silas ein Außenseiter. Er diente nun bei den Stadtwachen, der kleinen militärischen Einheit, die auf den uneinnehmbaren Mauern der Stadt Dienst schob. Beront brauchte nicht wirklich Soldaten, denn die Stadt lag weit ab jeder Straße und jeder Siedlung, mitten in einem Bergzug in der Wüste. Im Felsen stieg Wasser zu einem unterirdischen See auf. Einst kamen Nomaden hierher und fanden die verborgene Quelle. Die Erde hier war fruchtbar und die Felsen boten unendliche Gänge und Hallen, so bauten die ersten Siedler hier eine Stadt. Diese wuchs und gedieh in Frieden und Wohlstand. Die Menschen hier hatten ein einfaches Leben, sie brauchten sich nicht um Essen und Wasser zu sorgen, daher widmeten sie sich der Wissenschaft. In den Bergen fanden sie viele Metalle, und hatten die Muße mit ihnen zu arbeiten, so entwickelte sich die Kultur in Beront schneller als in der weitläufigen Umgebung. Auch den Stein konnten sie bezwingen und umgaben ihre Stadt mit einer mächtigen Mauer, deren Tor aus einem silbern Metall war und allen Angriffen Widerstand leistete. Silas wusste nichts von der Geschichte der Stadt, es interessierte ihn auch nicht. Er verbrachte oft Stunden damit, auf der Mauer zu stehen und in die Weite der Wüste hinauszustarren. Ein verträumtes Lächeln umspielte dann seine Lippen und seine Augen schienen zu leuchten. Er war ein Außenseiter und Einzelgänger, er konnte kaum schreiben oder lesen und es lag ihm auch nichts daran. Die Übungskämpfe und das Waffenlager waren ihm wichtiger und bereiteten ihm die einzige Freude in seinem einfachen Leben. Jarina war letzten Winter gestorben. Silas hatte sie allein, ohne Prozession, wie sie Tradition war, in den alten Berg außerhalb der Stadt gebracht, er hatte ihren Lieblingsstock neben sie gelegt und sie mit ihrer Decke gut eingewickelt, dann ihren Körper besonders sorgfältig mit Steinen bedeckt. Als der Hügel fertig - weit ab von den anderen - stand, blieb er noch lange dort sitzen und dachte an die alte Frau. Sie war sein einziger Freund, sein einziger Gefährte. Er erinnerte sich daran, wie sie am Kamin gesessen und ihm Geschichten von vergangenen Schlachten erzählt hatte. So gerne wäre er mit den Kämpfern aus Jarinas Stamm in den Krieg gezogen, so gerne hätte er mit ihnen oder auch gegen sie gekämpft. Immer wieder hörte er ihre Stimme, voller Hass auf Beront und seine Bürger. Hass auf Menschen, die den Wert eines anderen mit Zahlen zu beschreiben wussten, doch weder Mitleid noch Stolz kannten. Menschen, eingefangen in Buchstaben und Blättern voller Zeichen, eingefangen in Zahlen und Regeln. "Wir werden uns rächen", klang ihre Stimme in seinem Ohr. Erst der schmerzende Hunger hatte Silas daran erinnert, dass er nach Beront zurück musste. Auf dem Rückweg hatte er kurz überlegte, ob er nicht woanders hingehen sollte. Doch er kannte nichts außerhalb der Berge in der Wüste.
Er stieg gerade den Berg herab, als sich eine Lawine löste und er durch einen Schlag das Bewusstsein verlor. Es musste Tage gedauert haben, bis er sich aus den Steinen wieder befreien konnte und voller Prellungen und Blut zur Stadt zurück fand. Doch die Wunden heilten erstaunlich schnell und schon bald konnte er seinen Dienst wieder aufnehmen.
Es vergingen einige Jahre, in denen Silas sich um die Waffen in der Rüstkammer kümmerte und jede mögliche Wache übernahm. Er lebte nun allein in Jarinas Hütte und sein Kontakt zu anderen Menschen beschränkte sich auf die Übungen und den kurzen Gruß beim Wachwechsel. Die Menschen in Beront fürchteten Silas, doch sie machten sich auch hinter seinem Rücken über ihn lustig und würdigten ihn keines guten Gedanken. So fiel es ihnen nicht auf, dass Jahre ins Land zogen, ohne dass sich Silas Aussehen veränderte.
Dann kam der Morgen, an dem der Alarm das erste mal seit Jahrzehnten wieder ertönte. Feindliche Truppen standen vor den Toren. Eine mächtige Armee mit über 400 Reitern und 200 Fußsoldaten. Das Stadtoberhaupt versuchte, zu verhandeln, doch die Antwort bestand in einem Speerregen. Silas verließ seinen Posten nun nicht mehr, er saß auf den Mauern und beobachtete den Anführer der Truppen. Er war ein schlanker Mann mit stechenden Augen. Er saß auf einem dunklem Pferd was mehr durch seinen Willen den durch Zügel geführt zu werden schien. Die anderen Soldaten in Silas Truppe zitterten, wenn der Mann vor seinem Heer entlang ritt und Befehle gab. Als er sich der Mauer einst genähert hatte, um die Bedingungen für Beronts Kapitulation vorzubringen, hatte Silas ein komischer Kopfschmerz ergriffen. Der Mann schien auch etwas zu spüren, er hatte die Mauer abgesucht, bis sein Blick den von Silas einfing. In dieser Sekunde fühlte sich Silas diesem Fremden mehr verbunden, als allen anderen Menschen denen er je begegnet war. In ihm tönte wieder Jarinas Stimme: "Wir werden uns rächen, schon bald."
Die Belagerung dauerte schon drei Tage an. Silas hatte nur wenig geschlafen, er wollte keine Bewegung der Truppen vor den Mauern Beronts verpassen. Nun stand er groß aufgerichtet an der rechten Flanke des Tores und beobachtete, wie der Anführer seine Truppen anwies und dann langsam auf das Tor zuritt. Der Rat war zusammengerufen worden und beriet auf dem Marktplatz. Die Oberhäupter wurden von blassen Soldaten flankiert, als sie zum Tor kamen. Man merkte, dass die jungen Männer meist nur kurz beim Wachdienst blieben und ihre Pflicht mit dem Gedanken: "Es wird schon nichts passieren" erfüllten. Die neue, gefährliche Situation überforderte sie, so etwas hatten sie im Unterricht nie gelernt.
Der Anführer kümmerte sich nicht um die Worte der klugen Männer auf der Torbrüstung. Er sah nur zu Silas rüber, seine Augen schienen zu lächeln, obwohl sein Gesicht ernst blieb. Silas konnte sich von dem Mann im weißen Umhang, hoch auf dem Pferd, nicht losreißen. Er war wie gebannt, er wollte nichts anderes als zu ihm herunter, mit ihm sprechen oder gegen ihn kämpfen. Sein Blick war eine Herausforderung und gleichzeitig ein Angebot, und plötzlich verstand Silas ihn. Es war die Chance, die sich Jarina so lange erhofft und nicht mehr erlebt hatte. Er war einer der Männer aus ihren Geschichten, ein Krieger, ein Gegner. Jemand, der Beront besiegen konnte. Die Erkenntnis überkam ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Er stieg die Stufen zur Torbrüstung hinauf, drängelte sich wortlos an den Männern vorbei zum Torhebel durch. Silas löste eine komplexe Vorrichtung aus, welche den metallenen Riegel hob, der das Tor versperrte. Die Wachen stürmten auf ihn los, doch als er sein Schwert ziehend herumwirbelte, sprangen sie wieder zurück. Unten stürmten die Fußtruppen auf das Tor zu und drückten die schweren Flügel für die Reiterei auf. Als Silas auf dem Markt unten ankam war dort ein erbitterter und einseitiger Kampf entbrannt. Die Truppen des Fremden metzelten die kampfunerfahrenen Wächter der Stadt nieder. Silas Herz klopfte laut, die Entscheidung fiel ihm schwer, den die Angreifer waren die Kämpfer, mit denen er sich messen wollte, doch sich ihnen anzuschließen konnte ihm noch viele große Schlachten bescheren. So kämpfte Silas gegen die Menschen, mit denen er sein bisheriges Leben verbracht hatte, und es machte ihm Spaß. Einer der Wächter hatte ihn zu Boden gerissen, so dass er den Schmied, der mit seinem Hammer auf ihn ausholte, nur flüchtig aus den Augenwinkeln sehen konnte. Doch nichts geschah, kein Schmerz, nur ein leises Röcheln hinter ihm. Silas stemmte sich hoch und sah den Fremden, sein Schwert steckte in der Brust des Schmiedes und der fremde Anführer lächelte Silas an.
Die Schlacht war schnell zu Ende und Silas wurde in die Ratshalle der Stadt gebracht. Dort hatte der Anführer sein Lager aufgeschlagen. Silas stand mit offenem Mund da und betrachtete die prächtige Halle, die er in all den Jahren noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Doch als der Kopfschmerz wieder auftrat und der Fremde den Raum in einem langen weißen Gewand betrat, war die Pracht der grünblauen Höhle für ihn vergessen. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Mann. Dieser trocknete sich die Hände und das Gesicht ab. Sein Haar hing noch nass und tropfend auf den Schultern, doch er wirkte frisch und voller Energie. Nichts deutete darauf hin, dass er erst vor kurzem gekämpft hatte. "Ich bin Methos. Für deine Hilfe ist dir meine Dankbarkeit und meine Freundschaft gewiss", erklang seine tiefe und melodische Stimme. Silas war glücklich. Er konnte es nicht erklären, aber er wusste, dass er ein lang ersehntes Ziel erreicht hatte.
Silas legte sein Schwert neben Jarinas Grab. "Wir haben uns gerächt, Jarina. Und wie wir uns gerächt haben." Er lächelte. Vor der Höhle wartete Methos mit seinen Männern. Beront war wieder besiedelt, doch die neuen Herren der Stadt waren kein netter Menschenschlag. Doch sie wussten mit den Waffen und Vorrichtungen der alten Bewohner was anzufangen. Und so wurde Beront zu dem gefährlichsten Ort der bekannten Welt.
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